Das Wahlsytem zu den hessischen Kommunalwahlen bietet seit 2001 die Möglichkeit, Stimmen über Parteien zu verteilen (panaschieren) und über Kandidierende zu häufeln (kumulieren). Während einige diese Wahlfreiheit als ein Mehr an Demokratie befürworten, kritisieren andere die resultierende Unübersichtlichkeit und befürchten negative Effekte auf die Wahlbeteiligung. Unsere Analyse zeigt, dass bei den Wahlen am 14. März ein Großteil der Hessen kumuliert und panaschiert hat. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede entlang der Größe der Kommunen. In Landgemeinden und Kleinstädten machen deutlich mehr als die Hälfte von der Wahlfreiheit Gebrauch, in den größeren Städten tendiert die Mehrheit zum Listenkreuz. Es sind vor allem auch die kleineren Kommunen in denen das Kumulieren und Panaschieren einen Unterschied im Wahlergebnis macht - dort eher zu Gunsten von Union und SPD und eher zum Nachteil der Grünen. Mit Blick auf die 47 Frankfurter Stadtteile stellen wir fest, dass das Einkommensniveau zwar die Wahlbeteiligung deutlich strukturiert, aber nicht die Kumulier- und Panaschierfreude beeinflusst.

Kumulieren und Panschieren bei den hessischen Kommunalwahlen

Je nach Wohnort konnten die hessischen Wählerinnen und Wähler bei den Kommunalwahlen zwischen 15 Stimmen (z. B. Abtsteinach) und 93 Stimmen (Frankfurt) auf die einzelnen Bewerberinnen und Bewerber verteilen. Man konnte es sich aber auch einfacher als bei der Bundes- oder Landtagswahl machen und eine einzelne Listenstimme an eine gesamte Partei bzw. Wählervereinigung vergeben.

Unsere Auswertung der Wahlstatistik zeigt, dass sich je eine Hälfte der Hessen für eine der beiden Varianten entschied. Insgesamt wurde auf 53 Prozent der Stimmzetteln kumuliert und panaschiert. Die Lust am Kumulieren und Panaschieren hängt dabei deutlich mit der Größe der Kommune zusammen. In Landgemeinden (mit weniger als 5000 Einwohner:innen) begnügten sich nur 30 Prozent aller Wählerinnen und Wähler eine einzelne Listenstimme abzugeben, auf 70 Prozent der Stimmzettel wurde kumuliert bzw. panaschiert. In Kleinstädten (bis 20 000 Einwohner:innen) machten noch knapp 60 Prozent der Wähler und Wählerinnen vom offenen Stimmensystem Gebrauch. In den Großstädten überwiegen mit 57 Prozent dagegen die Listenstimmen. Allerdings gibt es auch innerhalb der Gemeindegruppen erhebliche Variation (Jeder Punkt in der Abbildung steht für eine Gemeinde. Die Box schließt die mittlere Hälfte der Werte ein, der Strich steht für die mittlere Gemeinde in der Verteilung).

Beispielsweise ist Rosenthal mit 88,3 Prozent der Stimmzettel Spitzenreiter in der Kumulierrangliste, Offenbach hebt sich mit 52,1 Prozent der Stimmzettel von den eher kumuliermuffligen Großstädtern ab. Mit Blick auf Frankfurt hat sich die Kumulierneigung im Zeitverlauf allerdings weiter erhöht. Während hier 2011 33,4 Prozent und 2016 34,8 Prozent kumulierten, waren es 2021 fast 40 Prozent. Eine mögliche Erklärung liegt in der Zunahme der Briefwahl. Anders als im Wahllokal findet man bei der Briefwahl sicher mehr Muße Dutzende Kreuze über die Stimmzetteltapete zu verteilen, wenn der Stimmzettel auf dem heimischen Fußboden ausgelegt werden kann.

Dass die Neigung zu Kumulieren und zu Panaschieren von der Gemeindegröße getrieben wird, erschließt sich einer intuitiven Erklärung. Die Idee des offenen Listenwahlsystem ist es, dass Wählerinnen und Wähler gezielt einzelne Kandidatinnen und Kandidaten auswählen können, etwa weil sie diesen besonders vertrauen oder besondere Kompetenzen zuschreiben. Solche individuellen Vertrauensbeziehungen lassen sich eher in übersichtlichen Landgemeinden und Kleinstädten knüpfen.

In Rosenthal (2200 Einwohner:innen) oder Antrifttal (1846 Einwohner:innen) gilt sicher: Jeder Mensch kennt jeden - und besonders gut kennt man kommunalpolitisch aktive Bürgerinnen und Bürger. In Großstädten wie Frankfurt (750 000 Einwohner:innen) oder Darmstadt (160 000 Einwohner:innen) wird Kommunalpolitik dagegen zwangsläufig zu einer anonymeren Veranstaltung. Einzelne Kandidierende sind hier weniger bekannt und treten stärker hinter dem Label ihrer Partei zurück. Hinzu kommt, dass sich der Aufwand des Kumulierens und Panaschierens mit wachsender Gemeindegröße vervielfacht. In größeren Gemeinden müssen die Wählerinnen und Wähler nicht nur mehr Listen durchsehen, da sich hier oftmals mehr Parteien und Wählervereinigungen um Sitze im Stadtparlament bewerben. Die Listen werden auch länger, da jede Partei bestrebt ist, ihre Liste mit so vielen Kandidierenden aufzufüllen, wie es Sitze im Stadtparlament gibt. Recht übersichtlich sind die Stimmzettel in kleinen Gemeinden: Auf maximal 15 Bewerber und Bewerberinnen aus verschiedenen Listen können wiederum maximal 15 Einzelstimmen verteilt werden. Für die Stadtverordnetenversammlung in Frankfurt hatte man dagegen die Qual der übergroßen Auswahl: Angesichts von 93 Stimmen, die man prinzipiell über 28 Listen und 1100 Kandidierende verteilen durfte, lag es nahe, nur ein Kreuz einzutragen.

Kumulieren und Panaschieren Briefwähler häufiger? Ein Schlaglicht auf Darmstadt

In der Abbildung werfen wir einen genaueren Blick darauf, wie die Häufigkeit des Kumulierens und Panaschierens über Stadtteile in Darmstadt variiert und wie die Kumulier- und Panaschierbereitschaft bei Brief- und Präsenzwahl ausfällt. Es fällt ins Auge, dass der Anteil von Stimmzetteln mit kumulierten und panaschierten Stimmen bei der Briefwahl deutlich höher ist als bei der Präsenzwahl. Dieser Unterschied ist in allen Stadtteilen präsent und besonders stark in Wixhausen ausgeprägt. Eine mögliche Erklärung liegt auf der Hand: Mit den Briefwahlunterlagen auf dem heimischen Schreibtisch kann der Stimmzettel ohne Zeitdruck studiert und ausgefüllt werden.

Welche Parteien profitieren vom Kumulieren und Panaschieren?

Wie die Abbildung verdeutlicht, macht das Kumulieren und Panaschieren für die Parteien einen Unterschied. Jeder Punkt repräsentiert den prozentualen Stimmenanteil einer Partei in einer Kommune, den sie durch Kumulieren und Panaschieren hinzugewonnen oder verloren hat. Beispielsweise hat die CDU in Selters (Taunus) ganze 11,5 Prozent hinzugewonnen, nachdem zusätzlich zu den Stimmzetteln mit einfachen Listenkreuz auch die weiteren Stimmzettel ausgezählt waren. Im selben Ort büßten die Grünen 7,7 Prozent gegenüber dem Trendergebnis ein.

Insgesamt fällt auf, dass besonders die CDU in Landgemeinden vom Kumulieren und Panaschieren profitiert. Sie gewinnt dort knapp 2,5% nach dem Auszählen aller Stimmzettel hinzu. Auch für die SPD überwiegen die Gewinne durch Kumulieren und Panaschieren leicht. Währenddessen verringert sich der prozentuale Stimmenanteil der AfD und der Grünen nach Auszählung aller Stimmzettel. Interessant ist, dass dieser Effekt für die Grünen bei allen Größen zu sehen ist, außer in Großstädten, wo jedoch allgemein weniger kumuliert und panaschiert wird.

Warum gerade die CDU und die SPD durch das Kumulieren und Panaschieren profitieren ist bisher wenig untersucht. Grundsätzlich zeigt die Kommunalpolitikforschung, dass vor allem lokal verankerte und gut vernetzte Persönlichkeiten Anklang finden. Es ist zu vermuten, dass diese Eigenschaften insbesondere auf die Kandidierenden der lang etablierten Parteien zutreffen.

Der Trend, dass in kleineren Gemeinden mehr kumuliert und panaschiert wird als in Großstädten ist auch hier deutlich zu erkennen. Mit zunehmender Größe nimmt die Veränderung der Stimmanteile aller Parteien ab und tendiert schließlich gegen Null.

Mehr Demokratie durch offene Listen, aber auch weniger Beteiligung? Ein Schlaglicht auf Frankfurt

Der Trend zu mehr demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten, wie direkter Demokratie oder offeneren Wahlsystemen wirft auch seine Schatten. Studien haben darauf hingewiesen, dass die zusätzlichen Wahlmöglichkeiten eher von ohnehin privilegierten Bevölkerungsgruppen genutzt werden und benachteiligte Gruppen zumindest nicht zur Beteiligung ermuntert werden. Komplexe Wahlsysteme könnten etwa dazu führen, dass formal geringer Gebildete von einer Wahlteilnahme Abstand nehmen. Ihnen fehlen eher die Ressourcen, um sich mit komplexeren Beteiligungsmöglichkeiten zu beschäftigen. Wir werfen ein kurzes Schlaglicht auf dieses Problem mit Blick auf die 47 Frankfurter Stadtteile. Auf der x-Achse ist das mittlere Monats-Bruttoeinkommen in den Stadtteilen abgetragen. Die y-Achse trägt in der linken Abbildung die Wahlbeteiligung ab und in der rechten Abbildung den Anteil von Stimmzetteln auf denen kumuliert und panaschiert wurde.

Die Verteilung in der linken Abbildung legt nahe, dass mit der Höhe des Einkommens auch die Partizipationsbereitschaft steigt. In den ärmeren Stadtteilen Fechenheim und Griesheim, haben sich nur 28,4 bzw. 37% der Bürgerinnen und Bürger an den Kommunalwahlen beteiligt. In den Stadtteilen mit hohem Einkommen (z. B. Westend-Süd) liegt die Wahlbeteiligung dagegen deutlich über 50%. Einen weitergehenderen Partizipationsbonus für wohlhabendere Viertel scheint es aber nicht zu geben. Beim Kumulieren und Panschieren macht das Einkommen im Stadtteil keinen Unterschied. Das heißt, auch wenn weniger Menschen in weniger gut situierten Vierteln zur Wahl gehen, machen sie doch ebenso häufig (bzw. selten) von der Möglichkeit Gebrauch, gezielt einzelne Kandidierende auszuwählen. Freilich dürfte die geringere Wahlbeteiligung mit Blick auf die Repräsentation der Interessen ärmerer Viertel schwerer wiegen.

One size fits all?

Dasselbe Wahlsystem wirkt in den 422 hessischen Kommunen sehr unterschiedlich. In kleineren Gemeinden werden die dort so wichtigen persönlichen Vertrauensbeziehungen zwischen Bürgerschaft und Kommunalpolitik auch wählerseitig durch fleißiges Kumulieren und Panaschieren gepflegt. In den großen Städten erscheint die Wahlfreiheit ob eines unübersichtlichen Angebotes an Listen und Kandidierenden kaum nutzbar. Zudem besteht hier zumindest der Anfangsverdacht, dass die riesigen Stimmzettel gerade den sozialen Gruppen die Lust am Wählen verleiden, die ohnehin in der politischen Repräsentation benachteiligt werden. Eine systematische Evaluation der vielschichtigen Effekte des Wahlsystems wäre daher ein wichtiger Beitrag für unser Verständnis der kommunalen Demokratie in Hessen.